On The Inside Looking Out
Kleiner Exkurs zum amerikanischen Musical
Musical ist mehr als Bodyguard, Starlight Express und Tanz der Vampire. Das amerikanische Broadway- und Off-Broadway-Musical ist so vielfältig wie die Musikszene selbst. Es gibt hier keinen Unterschied zwischen E und U. Die Kunst ist immer ebenso "ernst" im Sinne von anspruchsvoll wie "unterhaltsam". Wozu sonst sollten darstellende Künste überhaupt dienen, als zur Erbauung, zur Anregung des Geistes, ergo: zur Unterhaltung? Meine Jahre in Kalifornien haben mich mit dem Reichtum des amerikanischen Musicals in Berührung gebracht, und ich vermisse die bunte Mischung aus schrillem Glamour und pointiertem Timing, die Musik, die Quasi-Operette und dramatisches Musiktheater vereint mit Soul, Rap, Country, Jazz, Ethno, Swing und unendlich vielen anderen Stilen. Komponisten haben der Szene ihren ganz eigenen Stempelauf gedrückt, das Duo Rodgers/Hammerstein, Leonard Bernstein, Ira Gershwin, Stephen Schwartz, Stephen Sondheim – der dieser Tage seinen 90. Geburtstag feiert – , ebenso wie die zahlreichen zeitgenössischen Komponisten, Adam Guettel, Lin-Manuel Miranda, um nur einige zu nennen, die ihren Darstellern gesangliche und schauspielerische Höchstleistungen abverlangen. Viele der weltberühmten amerikanischen Schauspieler haben ihre Karriere am Broadway begonnen, sie sind durch die härteste aller Schulen gegangen: Acht Vorstellungen die Woche, singen, spielen, tanzen. Vorsingen. Und wieder von vorne. Wer ahnt schon, dass Glenn Close, Meryl Streep (lange vor dem Mamma-Mia-Film), Russell Crow, Hugh Jackman – obwohl Australier ;-) – ihre Sporen auf der Musicalbühne verdient haben und nicht nur gute Schauspieler, sondern auch richtig gute SängerInnen und oft auch TänzerInnen sind? In der Bay Area um San Francisco gibt es eine lebendige Musical-Community, deren Tausende Mitglieder Amateure, Semi-Profis und Profis sind und sich untereinander zum Großteil kennen, weil sie in irgendeiner Community Theater – sprich, Laien- oder Semi-Profi-Produktion – schon einmal oder mehrmals zusammen auf der Bühne standen. Sie proben 5 mal die Woche und führen ihr Stück dann über mehrere Wochenenden hinweg auf, meist unentgeltlich, aus reiner Lust am Spiel. Viele davon sind studierte MusikerInnen und SängerInnen, die tagsüber unterrichten oder irgendeinem ganz anderen Job nachgehen. Nicht zuletzt weil die Kunst in USA noch ein wenig "brotloser" ist als hierzulande – das mag man bedauern, aber es bringt auch eine fantastische Kreativität und Gemeinschaftssinn mit sich. Die Tickets für ein Community Play kosten in etwa so viel wie die subventionierten Karten der staatlichen Theater hier – während man für einen Platz in der – frei finanzierten – San Francisco Opera schon mal $250 hinlegt. Für die Galerie. Ich hatte das Riesenglück, Teil dieser Community zu werden und habe die Zeit in vollen Zügen genossen. Meine Freunde und Kollegen dort leiden zurzeit ebenso unter der Krise wie wir alle. Keine Proben mehr am Abend, freie Wochenenden ohne Aufführungen – was macht man mit all der Zeit? Man wird kreativ. Mein Freund und Show Producer John Bisceglie hat eine Gruppe gegründet namens Quarantine Cabaret. Wenn ihr wissen wollt, was Musical in seinem natürlichen Habitat so treibt, wie lebendig diese Musik ist und wie vielfältig, folgt der Gruppe und verfolgt die Aktivitäten der inzwischen fast 4000 Mitglieder. Ich habe die Chance genutzt und eines meines Lieblingslieder von Stephen Sondheim aufgenommen, Green Finch und Linnet Bird aus "Sweeney Todd". Es erschien mir passend, von Vögeln zu erzählen, die im Käfig eingesperrt sind und trotzdem singen, niemand weiß, warum. Auch wir schauen dieser Tage viel nach draußen. If we cannot fly, let us sing.
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